Pressestimmen zur Uraufführung
 

DAS CABINET DES DOKTOR CALIGARI

Das Südostbayerische Städtetheater unter der Intendanz von Johannes Reitmeier macht durch inzwischen zwei Musical-Uraufführungen von sich reden. Zuschauer, die in „Nostradamus“ in der letzten Spielzeit in gefühlsseliger Ergriffenheit schwelgten, dürften im neuen Stück überrascht gewesen sein (positiv oder negativ), dass Reitmeier, der beide Werke inszenierte, auch anders kann.

Die Welt im „Cabinet des Dr. Caligari“ ist eine Irrenanstalt, Caligari der monströse Anstaltsleiter. Er dirigiert die hypnotisierten in Zwangsjacken verpackten Insassen wie Marionetten. Eine Welt mit wenig Boden unter den Füßen, wie das Bühnenbild demonstriert: Eine Scheibe mit großem Loch, genauer besehen die Krempe von Caligaris auf dem Kopf stehenden Zylinderhut. Nur wenige symbolhafte Bühnenelemente, z.B. Laternen oder Luftballons, deuten die Schauplätze an. Das Irrenhaus ist lediglich der Rahmen am Anfang und Ende des Stücks, dazwischen entfaltet sich die schauerliche Story um den Schausteller und Hypnotiseur Dr. Caligari, der den somnambulen Cesare als willenloses Werkzeug ausschickt, für ihn zu morden, um ihm die letzten Atemzüge der Opfer zu besorgen, die Caligaris Lebenselexier sind.

Ein Stoff also, der die Urängste der Menschen vor übernatürlichen finsteren Mächten und dem unentrinnbaren Ausgeliefertsein an sie thematisiert. Über 80 Jahre alt ist der gleichnamige Stummfilm, der dem Musical als Vorlage diente. Er entstand aus der Ambition von Regisseur Robert Wiene, die Kunstform des Expressionismus auf den Film zu übertragen, was ihm, wie viele Filmkritiker im Jahre 1920 bescheinigten, auch trefflich gelang. Das Musical nun soll keine Kopie des expressionistischen Films auf Bühnenbrettern sein. Es will sich aber durchaus annähern an die unheimliche Ästhetik des antinaturalistischen Films mit seinen verzerrt gemalten Kulissen und schiefen, bedrohlichen Gebäudeelementen, die das mimisch und gestisch äußerst expressive Spiel der Akteure unterstreichen.

Wolfgang Sréter verfasste das Buch des Musicals unter Verwendung vieler, doch nicht aller Figuren und Ereignisse des Films.

Die Münchner Komponisten Toni Matheis und Raymund Huber schrieben eine spannende Musik dazu, die sogleich an Weills Brecht-Songs erinnert, viel rhythmisch lebhaften Tango-Bandoneon-Klang enthält, und die insgesamt nicht verbirgt, dass Tom Waits’ „Black Rider“-Musik Pate stand. Unter der Leitung von Ulli Forster lieferte die Band sensibel und spannungssteuernd das musikalische Gerüst.

Die grotesk-komische Ästhetik von „The Black Rider“ schien das Kreativteam überhaupt als den geeigneten Modus zur zeitgemäßen Umsetzung der expressionistischen Vorlage anzustreben. Das glückte auch. Der Regisseur verordnete seltsamen Stimmklang und expressive Mimik für die stummfilmähnlich geschminkten Akteure. Choreografin Petra Schulz entwickelte eine eigentümliche, fremdartige Bewegungssprache für jede einzelne Figur. Etwa die zeitlupenhaften Gänge der sängerisch begabten Jane-Darstellerin Kerstin Gandler mit vorgeschobenem Becken und angespanntem Körper, oder die echsenhaft flinke, verwinkelte Motorik des linkischen Kommissars, der Caligaris Geheimnis entlarven und selbst die Macht an sich reißen will, meisterhaft gespielt von Jochen Decker. Derart makaber, dass man erstaunt das Lachen nicht verkneifen kann, ist die Szene, in der er lustvoll und gar nicht zimperlich mit dem verschreckten Francis den ermordeten Alan auf dem Seziertisch inspiziert. Faszinierend auch das Spiel der Hauptfigur Caligari, der sichtlich Spaß hat an seinem bösen Tun. Dieter Fischer mimt diese Rolle mit unermüdlicher Energie und sonorer Reibeisenstimme.

Wieder eine gelungene Leistung. Empfehlenswert für Anhänger von schaurigen Geschichten, ein Muss für „Black Rider“-Fans.
(musicals, DAS MUSICALMAGAZIN, April/Mai 2001; Silvia Plankl)

Vampirtanz eines Diktatoren auf Menschenmaterial
Umjubelte Musical-Uraufführung im Landshuter Stadttheater: „Das Cabinet des Dr. Caligari“ als expressive Politparabel
Intendant Johannes Reitmeier scheint ein Händchen zu haben für Musicals, speziell für Uraufführungen. Letztes Jahr „Nostradamus“, nun „Das Cabinet des Dr. Caligari“ – beide ein Erfolg auf anspruchsvollem Niveau und beide grundsätzlich verschieden.
Als Regisseur kreiert Reitmeier ein „Cabinet des Dr. Caligari“ von bestechender Expressivität, ein eigenes Kunstwerk, das Wienes berühmten Stummfilm zwar als Vorlage benutzt, aber eigenständig weiterentwickelt, ein Meisterwerk des Bühnenbilds, der expressiven Schauspielkunst und auch eine Weiterentwicklung des Genres: statt seichter Unterhaltung eine politische Parabel mit großartigen Chiffren.

Die Welt als Irrenhaus
Autor Wolfgang Sréter zeigt uns die Welt als Irrenhaus, dirigiert von Dr. Caligari, einem Diktator par excellence, ein Vampir der Macht, unausrottbar, wo Gehorsam regiert, der den Menschen zum Material degradiert. Entsprechend entfernt sich die Musik (Toni Matheis und Raymund Huber) immer wieder von gefälligen Unterhaltungsmelodien, löst sich in schrille Dissonanzen der Jahrmarktsatmosphäre, adaptiert die einfachen Klang-Kadenzen der Filmmusik und präzisiert sie zum schaurig-poetischen Leitmotiv der inneren Dramaturgie, aus dem der ohrwurmmäßige Kasatschok die Figuren immer wieder in den Irrsinn des äußeren Geschehens aufpeitscht.
Petra Schulz choreographiert dazu keine Nummernrevue, sie sperrt die menschliche Bewegung in puppenhafte Roboter-Mechanik, übernimmt die gekrallten Finger des Films und treibt das Spiel zum Exzess. Exzentrisch geil schnappen die Hüften nach vorn, Beine spreizen, Köpfe knicken, Gelenke schieben, der ganze Körper reine Expression in gezirkelten Bewegungen in stimmig-exaltierten Kostümen in einem nicht minder expressiven Umfeld.

Theater von cineastischer Qualität
Mit Caligaris Hutband findet Thomas Dörfler eine schlüssige Chiffre für diese diktatorische Irrenwelt und eine dramaturgische Klammer zwischen Anfangs- und Schlussszene. Seine Bühne gewinnt filmische Qualitäten. Nahtlos wechseln die Orte vom Kai zum Jahrmarkt und Hinterhofmilieu, vom nächtlichen Gemach hinaus in die Gosse. Mit schräger Bühne und raffinierter Lichtregie erzielt er ungewöhnliche Raumdimensionen, verzerrte Perspektiven. Mit reduzierter Raumsymbolik verfremdet er a la Brecht, dynamisiert die Szenenwechsel und verführt in die Welt des Theaters, wie es sonst nur Kino schafft.
Wie hypnotisiert folgt man dem Spiel der Schauspieler, die sich in ihrer Stummfilm-Typisierung gleichen, die Masse Volk verkörpern, manipulierbar durch Schrecken und Demagogie, jederzeit austauschbar.
Nur einer sticht hervor: Dr. Caligari. Dieter Fischer karikiert ihn als feisten Schaubudenakteur aus dem Kabinett des Otto Dix, schleimig, gierig nach Macht schleicht er samtpfötig, fast eine Spur zu freundlich daher. Er braucht den letzten Atem der Menschen, um zu überleben. Den schafft ihm Cesare herbei. Ähnlich wie im Film entsteigt Matthias Friedrich dem Sarg, ein leblos hypnotisierter Pantomime in goldenen Hosen. „Ich bin“ echotet er in seinem leitmotivischen Song, und ist doch nicht er selbst. Aber seinem exotischen Charme obliegt Jane. Im Musical darf sie sich in Cesare verlieben. Ihre Verehrer Alan und Francis haben als Prototypen geiler Männlichkeit keine Chance mehr. Hervorragend karikiert Kerstin Gandler Janes erotisches Verlangen, Stummfilmpuppe und Loreley zugleich. Ihre Kraft zur Liebe löst Cesare aus dem Bann des Bösen und hebt das Publikum mit ihrer glockenhellen Stimme in die Sphären der Poesie.
Weil eben zwei Menschen den Gehorsam verweigern, gelingt es dem Kommissar, Dr. Caligari zur Strecke zu bringen. Ihm geht im wahrsten Sinne des Wortes der Atem aus. Aber das Happy-End stellt sich nicht ein. Der Kommissar schlüpft in die Rolle des Dr. Caligari, der so fröhliche Urständ feiert. Der kurze Traum von der Freiheit ist vorbei. Alle finden sich wieder, gefesselt in ihren Zwangskitteln, traumatisierte Menschen, Menschenmaterial für einen Irren, der sie verbraucht, um selbst überleben zu können.

Applaus nach jedem Song
Die Faszination dieser Uraufführung liegt gerade in dem unerwarteten Schluss, wodurch das Musical wie ein Krimi seine Schlüssigkeit erhält. Die Faszination liegt auch in der stilgetreuen Inszenierung, der man selbst die plakativen Naziparolen des Libretto nicht als pädagogischen Zeigefinger übel nimmt, und faszinierend ist das Ensemble, das schauspielerisch und musikalisch treffsicher die Akzente setzt und die schrill-schräge Musik (Ulli Forster mit der Band Piu-Piu) als dramaturgische Notwendigkeit erleben lässt. Applaus nach jedem Song – zu Recht!
(Mittelbayerische Zeitung, Michaela Schabel, 05.02.2001)

Der Luftmörder
Ein Stummfilm wird zum Musical: „Das Cabinet des Dr. Caligari“ wurde in Landshut uraufgeführt
„Ein Tütchen, ein Tütchen“, giert Caligari, als ihm die Luft ausgeht. Die Tütchen, die er in seinen Fracktaschen hortet, enthalten den letzten Atemzug eines Menschen – und den braucht der Vampir Caligari als Lebenselexier und Droge. Dafür schickt der Schausteller den hypnotisierten Cesare aus zum Morden. Caligari ist der große Manipulator, immer auf der Suche nach „Menschenmaterial“ – und als unheimliche Titelfigur des berühmten expressionistischen Stummfilms von Robert Wiene aus dem Jahr 1919 auch eine Vorahnung der kommenden Gesinnungsdiktatur.
Nun macht der Film-Bösewicht Musical-Karriere: Drei Münchner sind die Autoren: Wolfgang Sréter schrieb den Text für „Das Cabinet des Dr. Caligari“, die zwischen Kurt Weill und Tom Waits oszillierende Musik komponierten Toni Matheis und Raymund Huber, Johannes Reitmeier, Intendant des Südostbayerischen Städtetheaters, inszenierte die Uraufführung im Stadttheater Landshut mit farbigem Bühnen-Expressionismus. Die Welt ist ein Irrenhaus und Dr. Caligari der Anstaltsdirektor. Wie die Insassen den Verstand verloren haben, das spielen sie auf einer schrägen Scheibe, nach allen Seiten offen.

Der Tod kommt im Morgengrauen
Magisch rot erglüht der Sarg aus dem Caligari sein wahrsagendes Medium Cesare hervortreten lässt. „Bis zum Morgengrauen“ lautet dessen Antwort auf Alans Frage, wie lange er noch zu leben habe. Alan, wie sein Freund Francis verliebt in die blonde Jane – will’s nicht glauben. Am nächsten Morgen ist er tot, hinterrücks erdolcht. Das nächste Opfer soll Jane werden. Seltsam fasziniert von Cesare, kann sie diesen zur gemeinsamen Flucht bewegen. Aber die Illusion der Liebe zerplatzt in der Erschöpfung der Nacht wie anfangs die Jahrmarkt-Luftballons, Caligari findet in dem wieseligen Kommissar, der ihn eigentlich jagen soll, einen neuen Handlanger. Sieht man Caligari als Hitler, ist der Kommissar sein Propagandist Goebbels, der gerne in die Schuhe des Mächtigen stiege. Aber Caligaris Zylinder ist ihm doch eine Nummer zu groß. Er bleibt Knecht und Diener. Am Ende stecken alle wieder in den Zwangsjacken, und Caligari triumphiert.
Jede Figur hat ihre stilisierte Körpersprache, (...) Es hat grotesken Witz, wenn sich die Freunde mit Stockschirmen duellieren, der Kommissar mit Riesenlupe und Taschenlampe auf die Jagd geht oder die Akteure in Stummfilm-Posen erstarren.
(...) Die Komponisten Matheis und Huber zitieren quer durch alle Genres, von Jahrmarktsmusik über Lateinamerikanisches bis zu melancholischen Balladen, schaffen 20er Jahre-Atmosphäre à la Kurt Weill und finden einen ganz eigenen schrägen Stil.
(Münchner Abendzeitung, Gabriella Lorenz, 05.02.2001)

Caligaris Kunstfiguren-Kabinett
Johannes Reitmeier verhilft dem „Caligari“-Musical zu einer witzig-bizarren Uraufführung
Die Erde ist eine Scheibe und hat in der Mitte ein Loch. Das Loch ist ein Abgrund, aus dem das Böse emporkriecht, und zugleich Zentrum einer vom Wahnsinn beherrschten Welt. Die Scheibe hängt etwas schief in den Angeln, sie bietet den Geschöpfen, die darauf umherirren, wenig Halt, und damit werden sie zu einer leichten Beute für den, der ihnen den „Letzten Atemzug“ raubt, um selbst zu über-leben: den wahnsinnigen Doktor Caligari. Thomas Dörfler liefert mit diesem ebenso eindringlichen wie symbolträchtigen Bild das tragende Gerüst für die Geschichte vom Magier, der aus der Welt ein Irrenhaus macht. Er hat die Scheibe in den nackten, bis zur Brandmauer offenen Bühnenraum des Landshuter Stadttheaters gestellt, wo sie durch die 22 Bilder des Musicals wie eine Plattform durchs Universum schwebt.
Auch wenn Wolfgang Sréters Libretto auf dem gleichnamigen Stummfilm von Robert Wiene basiert, ist das Musical in Landshut nicht zu einer Theateradaption des Films geworden. Johannes Reitmeier, der Regisseur der Uraufführung, hat mit seiner Inszenierung zu einer ganz eigenen, vom expressionistischen Vorbild weit entfernten Ästhetik gefunden. Er bevölkert Thomas Dörflers Bühne mit Kunstmenschen mit mechanischen Aufziehpuppen, deren Bewegungen eine im Rücken verborgene Stahlfeder zu steuern scheint. In witzig-bizarren Bewegungs- und Ausdrucksstudien unterstreichen die Darsteller diesen artifiziellen Charakter, der sie als willenlose und ferngelenkte Wesen in einer makabren, morbiden Welt ausweist.
„Ich bin der, der mit euch macht, was er will“ – lautet dann auch der leitmotivische Satz des Doktor Caligari, von Dieter Fischer mit rauer Kehle und dämonischem Gestus gesungen und gespielt. Aber bei allem Tiefsinn, der in der Parabel vom skrupellosen Machtmenschen steckt, der andere töten lässt, um selbst leben zu können, gibt Johannes Reitmeiers Inszenierung doch den schwarzhumorigen und komischen Qualitäten dieses Musicals den Vorzug. Ganz besonders in der Figur des zwielichtigen Kommissars, einer Rolle, in der Jochen Decker zu großer Form aufläuft: als Kinderschreck und bleicher Bösewicht vom Format eines Klaus Kinski in besten Edgar-Wallace-Zeiten, aber auch – zusammen mit dem zombinahen Francis-Darsteller als leichenfledderndes Rumpelstilzchen.
Die gruselige Komponente bleibt dem bedauerlichen Cesare vorbehalten, den Caligari in einem Sarg aufbewahrt und nur herausholt, wenn er wieder mal eine Leiche beziehungsweise einen „letzten Atemzug“ braucht. Auf diesen hypnotisierten Mordbuben ist allerdings auch nur Verlass, solange er nicht den Reizen der schönen Jane verfällt – von Kerstin Gandler kapriziös dargestellt und mit großer Musical-Stimme ausgestattet. Sie vor allem findet für die Songs von Toni Matheis und Raymund Huber den adäquat gemischten Ton aus Sprechgesang und jazzigen Elementen. Die „Caligari“-Musik ist – trotz Tango-Einlagen und Kinderlied-Anleihen – alles andere als einschmeichelnd. Wer Weills Brecht-Musiken mag, wird sich hier aber auf Anhieb angesprochen und gut aufgehoben fühlen.
Das Landshuter Premierenpublikum fühlte sich angesprochen, der mit Bravorufen reich bestückte Applaus hatte Großstadtformat – ebenso wie diese Uraufführung.
(Landshuter Zeitung, Hannelore Meier-Steuhl, 05.02.2001)
Statt Grusel Musical im Cabinet
Gelungene „Caligari“-Uraufführung in Landshut
Als die Bilder gerade das Krabbeln lernten, also in der Frühgeschichte des Films, noch tonlos und ganz in Schwarzweiß, da kam im Jahre 1920 ein Streifen auf die Kinoleinwände, der wurde als ein Höhepunkt des Stummfilms angesehen. Was eigentlich Manko der noch in den Kinderschuhen steckenden Filmtechnik sein sollte, wurde damals von Regisseur Robert Wiene einfach zur Stärke um-erklärt: die ungeheure Expressivität ‘gezackter‘ Hell-Dunkel-Konturen, die Notwendigkeit, eine Geschichte lediglich ‘in Schwarzweiß‘ zu erzählen, mit graphischen Symbolen, mit (be-)stürzenden Linien, mit grotesken Dimensionen. Und ein einsamer Stummfilmpianist spielte dazu. Schaurig spielte er. Denn es handelte sich ja um die gruselige Geschichte des Dr. Caligari.
Vergangenen Freitag in Landshut, einem der drei Spielorte des Südostbayerischen Städtetheaters, spielte nun eine ganze Band, die vorzüglich die Jazz-, Tango- und wenn es sein musste sogar auch Kinderlied„nummern“ aufspielende, aus noch recht jungen Musikern bestehende Band Piu-Piu. Die Bilder über das Treiben Caligaris haben in der Zwischenzeit, immerhin 80 Jahre, nämlich nicht nur das Laufen, sondern auch noch das Tanzen, Singen, Raunen, Deklamieren, Bassbrummen, irre Kreischen und verliebte Säuseln gelernt. Aus dem „Cabinet des Dr. Caligari“ ist ein Musical geworden, und zwar mit allem Drum und Dran, also mit Gesangs- und Tanzeinlagen, mit Sentiment und Bühnenzauber. Und das dank einer Idee des Münchner Theater- und Prosaautors Wolfgang Sréter sowie der Münchner Komponisten Raymund Huber und Toni Matheis, die beide schon bei Konstantin Wecker in der Band spielten, Matheis ist mittlerweile musikalischer Leiter der Schauburg in München.
Ein gelungener Musicalabend wurde es auch deshalb, weil Intendant Johannes Reitmeier, der vergangenes Jahr mit einem eigenen „Nostradamus“-Musical reüssierte, es sich natürlich nicht nehmen ließ, diese Landshuter Welturaufführung selbst in die Regiehand zu nehmen. In der ersten Szene sehen wir den Irrenarzt Caligari im Kreise seiner ruckelnden und zuckelnden, sabbernden und labernden Patienten. Er zieht seinen weißen Irrenarztkittel aus, wendet ihn, zieht ihn wieder an. Und steht nun im schwarzen Mantel des Magiers da. Als ein solcher zieht er mit seiner Sargkiste los, zu den Jahrmärkten dieser Welt. Caligari – von Dieter Fischer als feister Menschenzirkusdirektor gespielt, geht nämlich auf Menschenfang. Der letzte Lebenshauch seiner Opfer, in Papiertütchen eingefangen, ist ihm lieber als jede Koksstrecke oder Ecstasy-Pille.
Auf dem Jahrmarkt dann führt Caligari sein ihm durch Hypnose gehorchendes „Schauobjekt“ Cesare vor (somnambul: Matthias Friedrich), der, rot angestrahlt, aus Caligaris Sargkiste steigt. Er ist es, der im Auftrag des Meisters die Morde begehen muss, die Morde um der „Tütchen“ willen. Bis er an Jane gerät, die von Kerstin Gandler als lottriges Hafenmädchen, die schon den beiden Machos Alan und Francis den Kopf verdreht hat, gespielt wird, mit verwegen weit nach vorne getänzeltem Becken. Cesare und Jane vergucken sich ineinander .. und nix is‘ mit Mord! Das könnte der arg banale Schluss und die wenig aufregende Moral des Stückes sein, dem Motto nach: die Macht der Liebe sprengt jeden Bann und Zauber. Aber dabei bleibt es ja nicht.
Denn da gibt es ja den von Jochen Decker wunderbar irre gespielten, in wahren Veitstänzen agierenden Kommissar, der Caligari zwar zur Strecke bringt, dann aber in dessen schwarzen Magiermantel steigt und seine Rolle übernimmt. Die irren Irrenärzte sterben nicht aus. Kann wieder alles von vorne beginnen. Auf der leicht geneigten hölzernen Drehscheibe, die Bühnenbildner Thomas Dörfler sich ausgedacht hat und die an jenes Fahrgeschäft auf der Münchner Wies’n erinnert, wo sich die Menschen auf einer immer rascher drehenden Scheibe zu halten versuchen, was ihnen natürlich nicht gelingt. Auch über Dörflers Bühnenscheibe robben sie gelegentlich auf allen Vieren, als ob diese Zen-trifugalkräfte entwickelte, und „spritzen“ nur so aus dem Leben. Dass das Ganze aber dennoch immer eine Art Jahrmarktsbuden-Gaudi bleibt, liegt auch an so schönen Regieeinfällen wie dem, die Leichenobduktion eines der Caligari-Opfer als eine slapstickhafte Pantomime unter einem grünen OP-Tuch ablaufen zu lassen. Da gab es viel Gelächter im Publikum und natürlich Szenenapplaus, der sich nach dem Schlussakkord dieses unterhaltsamen Grusel-Musicals noch steigerte zu einem deutliche Begeisterung ausdrückenden Schlussapplaus.
(Bayer. Staatszeitung, Bernhard Setzwein, 9.02.2001)

Ein schräges Musical
Schaurig-schön
Mit dieser Musicaluraufführung ist Intendant Reitmeier ein absoluter Treffer in der laufenden Spielzeit gelungen. Bühne, Kostüme, Maske – alles vom Feinsten und eine Wohltat für jedes Auge. Zudem eine tolle Vorgabe für alle sechs Darsteller: Matthias Friedrich – als zerbrechliches nicht von dieser Welt stammende Individuum Césare ein echter Hingucker. Alexander Braunshör – als liebeskranker, buhlender Francis exzellent besetzt. Thorsten Danner – als lebender und toter Alan leider schon frühzeitig von der Bühne verdammt. Jochen Decker – als unerschütterlicher, wandlungsfähiger und vor allem witziger Kommissar eine Idealbesetzung. Kerstin Gandler – als kokettierende Jane unübertroffen und mit unglaublicher Gesangsstimme ausgestattet. Und zu guter letzt Dieter Fischer – als ausdrucksstarker, stimmgewaltiger Dr. Caligari bei jedem Auftritt der absolute Bühnenmittelpunkt. Nein, mit dem Stummfilm-Original hat dieses Werk bis auf den Titel und die typisch stark geschminkten Augen der Darsteller sicherlich nichts gemeinsam. Zwar haben die Darsteller ebenfalls ein Höchstmaß an Mimik und Gestik an den Tag gelegt – doch dem Zuschauer wurde im gleichen Atemzug eine Aneinanderreihung von optischen Glanzpunkten geliefert, allen voran die exzellente Kostümwahl von Anke Drewes, die an Extravaganz und Farbe kaum zu übertrumpfen sind.
(Landshuter Wochenblatt, 08.02.2001)

Grusel-Klassiker wird zum Musical
Die Welt als Wahnvorstellung: ein Irrenhaus, bevölkert von marionettenhaften Spießern, Träumern und einem Hypnotiseur namens Dr. Caligari. Der faucht, knurrt, bläht sich und ist gierig wie ein Vampir, immer auf der Suche nach „Menschenmaterial“, um selber zu überleben.
Die Hauptfigur ist aus Robert Wienes expressionistischem Stummfilmklassiker „Das Kabinett des Dr. Caligari“ aus dem Jahr 1919 hat im gleichnamigen Bühnenstreifen von Autor Wolfgang Sréter und den Komponisten Toni Matheis und Raymund Huber ähnliche Züge. Vieles ist aber auch anders als im alten Film. Das moderne Musical, als Resultat des gewagten Experiments, ließ Johannes Reitmeier im farbigen, expressiven Umfeld inszenieren. (...) Nach „Nostradamus“ im letzten Jahr also wieder ein Erfolg von Reitmeier auf anspruchsvollem Niveau – zu dem auch die Songs der beiden Münchner Komponisten, die in ihren schräg schmissigen Rhythmen und trauerkomischen Färbungen an Kurt Weill erinnern, und die schauspielerisch und meist auch singtechnisch treffsicheren Szenen ihr Scherflein beigetragen haben. Die vielen Bravo-Rufe geben ihnen jedenfalls recht.
(Landshut aktuell, 07.02.2001)

Der letzte Atemzug kommt in die Tüte
Grusicals Uraufführung ist am Dienstag im Stadttheater angesagt, und hier präsentiert sich die ganze Welt als ein Irrenhaus. Dr. Caligari ist der furchtbare Chefarzt, und darum ist auch die ganze Welt in seinen mörderischen Krallen. Seine Kreaturen sind irre und real und irreal, agieren wie aufgezogen, wie Maschinenmenschen, genormt und getypt als Roboter des Bösen. Um als untotes Monster existieren zu können, braucht der diabolische Dämonen-Doc in regelmäßigen Dosen ein Tütchen mit dem letzten Atemzug eines Ermordeten, das er gierig inhaliert. Irgendwas anderes kommt ihm deshalb nicht in die Tüte.
Die Welt besteht aus einem dominanten Loch mit etwas Rand. Und aus diesem Loch, dem Ein- bzw. Ausgang zur Unterwelt, kriecht schleimig, bedrohlich und mordend – aber auch ein bisschen komisch – das ewig Böse namens Caligari. Und da es sich um ein Musical handelt, wird das alles auch mit Musik geliefert. Die ist ein Konglomerat aus plüschäugigem Tango, erotischem Blues, opernhaften Klimmzügen à la großes Musical und elektrisierenden Anklängen an den alten Dessauer Kurt Weill. Diesen süß-sauren Stilcocktail, gerührt und nicht geschüttelt, mixen die brillanten Solisten der Più-Più Band unter Leitung von Ulli Forster mit ebenso großer Flexibilität wie routinierter Musikalität.
(Straubinger Tagblatt, 15.02.2001)
Ein Machtmensch zwischen Mabuse und Mephisto
Südostbayerisches Städtetheater: Uraufführung von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ in Passau
Die Bühne ist dunkel und schräg, die Menschen, die aus dem Krater nach oben kriechen, sind weiß geschminkt mit großen verschatteten Augen und dunklen Mündern, sie stecken in Zwangsjacken. Real oder gar realistisch ist in diesem unheimlichen Cabinet des Dr. Caligari gar nichts. Soll es auch nicht sein. Es geht um Menschen und Machtmenschen. Den expressionistischen Stummfilm aus dem Jahr 1919/1920 hat sich das Trio Wolfgang Sréter (Librettist, der in Passau geboren wurde und heute in München lebt) und die Münchner Musiker Toni Matheis und Raymund Huber als Motivvorlage erwählt. Am Samstagabend hatte das Musical im Fürstbischöflichen Opernhaus Passau Uraufführung.
(...) „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist ein skurriles Musik-Schauspiel, das eine eindringliche Parabel über die Macht liefert. Als solches inszeniert es Johannes Reitmeier, der Intendant des Südostbayerischen Städtetheaters, auch. Dabei nimmt er in der Optik durchaus Bezug zum Film und zum Expressionismus. Das Bühnenbild (Thomas Dörfler) zeigt schon, dass in dieser Welt nichts mehr gerade steht. Schief ist die Bühne, aber auch die Anordnung der wenigen Versatzstücke meist in stark kontrastierenden, expressionistischen Farben und geometrischen Segmenten. Die Kostüme (Anke Drewes) betonen ebenso den Kunstraum, in dem sich die Figuren bewegen, wobei eine starke Ironie (Jane mit Gretchenfrisur, die beiden verliebten Männer in englischem Karo und Regenschirm) auch hier zu spüren ist. Pose und Ironie – das scheint das Konzept der Regiearbeit Johannes Reitmeiers. Slapstick, Pantomime, Tanz, raumgreifende Körperintensität (Choreografie: Petra Schulz), unterstützt durch eine ausgereifte Lichtregie beherrschen den Abend. Jede Figur erhält eine spezielle, typisierende Körpersprache, steht eigentlich für sich. (...) So der schleichende, katzenartige Gang des Irrenarztes (Dietrich Fischer) oder die servilen bis hin sich zur Macht vogelartig aufschwingenden Bewegungsabläufe des Kommissars (Jochen Decker). Körperliche Kommunikation ist nur selten und dann in verschränkten Bewegungen möglich, zum Beispiel bei Jane und Cesare (Matthias Friedrich) oder zwischen den beiden Buhlen um die Gunst der Jane (Thorsten Danner und Alexander Braunshör), die doch so gerne mal Held sein möchten. Beim Zweikampf mit den Regenschirmen und der wie ein Comic in Szene gesetzten Obduktion wird die Ironie, die über der gesamten Inszenierung liegt, am augenfälligsten.
Reitmeier nimmt bewusst die vielen ironischen Elemente aus dem Libretto von Wolfgang Sréter auf. Da wimmelt es nur so von Anspielungen auf die Weltliteratur von Shakespeare bis Goethe, von Eichendorff bis Heine; Grillparzer, Brecht und ein Kinderreim fehlen auch nicht. Dies ist durchaus geschickt montiert, verfremdet, gibt dem Text eine zweite, tiefere Ebene und provoziert so manchen erheiternden Schmunzler in dieser sonst düsteren Geschichte um Liebe, Tod und Teufel.
Toni Matheis und Raymund Huber entwerfen einen interessanten, spannenden Klangteppich (...), der keiner Stilrichtung zuzuordnen ist, sich vielmehr überall bedient, durchaus musikalische Zitate frei verwendend. Da kommt einem das „Seeräuber-Jenny“-Lied in den Sinn, auch „Evita“. Jahrmarktsmusik klingt ebenso an wie argentinischer Tango, Bar- und Sphärenklänge, Rock, Blues-Balladen und die Musik der 20er Jahre. (...) Vor allem mit der Instrumentierung der Blechblasinstrumente verfremden die beiden Komponisten kräftig. So ist die Musik passend zum Sujet schräg, ironisch, manchmal verstörend. Großen Applaus erhielt Ulli Forster für die musikalische Leistung des Abends sowie seine Band Più-Più.
Normal ist in dieser Welt des Magiers nichts: „Der Wahnsinn drückt in den Därmen.“ Und wenn das Cabinet des Dr. Caligari geschlossen wird, kehren alle wieder zu ihrem Alltag in Zwangsjacken zurück. Caligari – mit Dietrich Fischer hervorragend besetzt – ist ein groteskes Beispiel für einen Machtmenschen, der angesiedelt ist zwischen Mabuse und Mephisto. Die Skurrilität triumphiert in dieser Welt, die ein Irrenhaus ist. Ein außergewöhnlicher, abstrakter, gewagter (...) packender Abend.
(Passauer Neue Presse, 26.02.2001)

Der Rausch der Macht: „Doktor Caligari“ in Landshut
Ein fahler Lichtstrahl kitzelt den schwarzen Zylinder. Er wächst und wächst, zerrt sich groß, wirft riesige Schatten, füllt plötzlich die Bühne. Im Hut ist Platz für ein Panoptikum des Irrsinns. Auf seiner Krempe, einem schrägen hölzernen Rund, tobt das Leben und Sterben – inszeniert von Doktor Caligari: „Ich bin der, der mit euch macht, was er will. Wenn ich es befehle, so steht ihr still.“ (...)
Fabelhaft! Reizend! Verrückt! Gewitzt! Ein rundrum gelungenes Stück Musiktheater ist da zu erleben. Angefangen vom Bühnenbild zwischen Konstruktivismus und Comic (Thomas Dörfler), das mit den stark dynamisierten geometrischen Motiven und leuchtend monochromen Farbflächen spielt, über die Musik, die Aufregend-Gefälliges mit kecken Spannungsmomenten, mutigen Klangabenteuern versetzt und durch Dissonanzen bricht, bis zu den Schauspielern, denen Petra Schulz eine wunderbar fiebrige Puppenchoreografie auf den Leib geschrieben hat. Und natürlich: die Regie.
Johannes Reitmeier erweitert den schaurig-poetischen Stoff um eine politische Dimension, erzählt mit kunstvoller Präzision und zauberhaften Ideen in zerdehntem Zeitraffertempo eine expressive Parabel um Macht und Menschenmaterial und ist am Ende wieder am Anfang. Ein neuer Doktor, neue Sklaven: „zurück zur Macht, zurück zur Macht“. Ein Kreislauf des Schreckens.
Dieter Fischer ist dieser Doktor Caligari. Ein feister Jahrmarktdirektor, ein gierig-plumper Vampir, ein Teufel von Nicholsonschen Ausmaßen, ein spitzfindiger Irrenarzt. Von letzten Atemzügen nährt er sich, die sein Faktotum Cesare, ein armseliges somnambules, androgynes Wesen (Matthias Friedrich), das unter Hypnose mordet, in Tütchen sammelt. Bis Jane, ein Vamp, auftaucht und er sich in ihren zarten, klebrigen Banden verheddert. Jane, der Kerstin Gandler puppenhaft blond Gestalt verleiht. Die sich in großen Stummfilmgesten mitteilt, deren Bewegungen bravourös in Comicschlenker driften. Zwei Männer buhlen um dieses schöne Geschöpf: Francis (Alexander Braunshör wirkt wie aus dem Schwarzweißfilm gesprungen) und Alan (liebenswürdig draufgängerisch: Thorsten Danner). Und dann gibt es da noch den Kommissar im Trennchcoat, der mit großer Lupe den Verbrechen nachhetzt: Jochen Decker setzte mit seiner Darstellkunst ein kleines Highlight. In seinem Kommissar findet man komisch Züngelndes, zerzauste Überdrehtheit und hektischen Witz – und man lacht sich kaputt.
Am Ende steht alles auf Anfang: der Doktor räkelt sich, taucht ab in die Nacht mit einem düsteren Versprechen: „zurück zur Macht, zurück zur Macht!“
(Donaukurier, 14.03.2001)