Die Vorlage: Der Stummfilm


Francis (Friedrich Feher) erzählt im Hof einer Irrenanstalt einem anderen Patienten seine Geschichte: In einer norddeutschen Kleinstadt tritt der Schausteller und Hypnotiseur Dr. Caligari (Werner Krauß) mit seinem Medium, dem Somnambulen Cesare (Conrad Veidt) auf. Cesare kann die Zukunft voraussagen. Nach einer Reihe von Morden geraten Caligari und sein Helfer in Verdacht, die Täter zu sein, denn Cesare hat Francis' Freund Alan, der ermordet wurde, den baldigen Tod vorausgesagt. Francis überwacht deshalb Caligaris Wagen, doch in Cesares Truhe liegt – wie sich später herausstellen wird – eine lebensgroße Puppe. Cesare selbst verschleppt derweil Francis' Freundin Jane (Lil Dagover), muss aber von ihr ablassen, als er verfolgt wird. Nachdem Cesare als Mörder entlarvt ist, muss sein Meister fliehen. Er versteckt sich in einer Irrenanstalt, Francis folgt ihm – und stellt fest, dass der Anstaltsdirektor selbst Caligari ist. Als der Direktor im Hof erscheint, wo Francis diese Geschichte erzählt hat, stürzt sich Francis auf ihn. Der Direktor tut kund, er habe Francis’ Trauma nun durchschaut und könne ihn heilen.


Dieser erste konsequent im Stil des Expressionismus gestaltete Film von 1919/20 war zugleich der Höhepunkt expressionistischer Filmkunst, denn die Formensprache, die diesen Film zu einem künstlerischen Meisterwerk macht, wurde von den nachfolgenden Vertretern des Genres nicht mehr wesentlich erweitert. Stilisiert verwinkelte Interieurs, verzerrte Perspektiven, zackige Linien, mit Symbolen übersäte Wände, graphische Auflösung der Raumdimensionen, karikierte Größenordnungen (etwa von Stühlen relativ zu Tisch), eine Hell-Dunkel-Gegensätze betonende Lichtgestaltung, in Zackenschrift gehaltene Zwischentitel, gespenstische Schatten und eine Gestik, die stets leicht zur Übertypisierung tendierte – all das vereint „Das Cabinet des Dr. Caligari“ in bis heute begeisternder Intensität. Dieser Film schuldet den Architekten – Walter Reimann, Walter Röhrig und Hermann Warm – ebensoviel wie dem Kameramann, den hervorragenden Darstellern, den inspirierten Szenaristen und seinem innovativen Regisseur Robert Wiene.

aus: »Reclam-Filmlexikon«